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Corona im Fokus Detailansicht

Lieber Abstandsregeln als Kommaregeln? Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Heiner Barz bezieht in einer Polemik deutlich Stellung

„Was ist zu halten von einem Berufsstand, der sich in der Coronakrise in großen Teilen per SMS zur Hochrisikogruppe erklärte und vom Job abmeldete?“ fragt der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Heiner Barz (Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement) in einer Polemik: „Wie viele Vorurteile und wie viele Wahrheiten stecken in den abfälligen Urteilen und bösen Unterstellungen, die sich mit jeder Woche, die die Schulschließungen andauerten, verschärften? Von Seiten der überforderten und oft alleine gelassenen Eltern schulpflichtiger Kinder. Und von Seiten der Beschäftigten fast aller anderen Branchen, die durch Kurzarbeit mit drastischen Einkommenseinbußen zurechtkommen müssen. Oder die ‚wegen Corona‘ unter oft unerträglich erschwerten Bedingungen weiter ihren Dienst verrichten. Während über Lehrer immer wieder berichtet wurde, dass sie sich bei vollen Bezügen und unkündbarem Beamtenstatus in ihren Wohnungen verschanzten.“

Prof. Dr. Heiner Barz, Foto: Heiner Barz

Barz zeigt auf, dass immer wieder von Lehrerinnen und Lehrern zu hören war, die über Monate hinweg keinen einzigen Versuch unternommen hätten, mit ihren Schülern über eine Videokonferenz in Kontakt zu treten, dass innerhalb von 12 Wochen keine einzige Rückmeldung zu digital abgelieferten Hausaufgaben eingegangen sei, dass es nicht ein Telefonat, nicht ein Unterstützungsangebot gab. Aber auch von hochmotivierten Kindern, die sich endlich nicht mehr durch die lahmen Klassenkameraden in ihrem Lerneifer gebremst fühlen und von erstaunten Eltern, die sich am Lernfortschritt ihrer Sprösslinge und am eigenen Arbeitspensum berauschen, das sie noch vor wenigen Monaten für kaum bewältigbar gehalten hätten.

Die nun angekündigte Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts nach den Sommerferien stößt von vielen Seiten auf Widerspruch. Dafür hat Barz zunächst auch Verständnis: „Man kann den Leuten nicht über Wochen und Monate von früh bis spät Panik-Propaganda auf allen Kanälen vorsetzen und dann erwarten, dass sie entspannt von heute auf morgen vom Todesangst-Modus auf Normalbetrieb umstellen. Trotzdem wird seit einigen Wochen im Bildungssystem der untaugliche Versuch unternommen. Lehrerinnen und Lehrer sollen nun wieder zurück an die Schulen – ‚unter Berücksichtigung der Hygieneregeln‘ versteht sich. Dick mit Masken vermummt, oft mit Einweghandschuhen ausgerüstet versuchen nun Pädagoginnen und Pädagogen einen Unterrichts-Schichtbetrieb zu realisieren, bei dem es mehr auf Abstands- als auf Kommaregeln, mehr auf Infektionskurven als auf Kurvendiskussion ankommt.“ Der Erziehungswissenschaftler macht aber für das oft geringe Interesse, den Präsenzunterricht wieder aufzunehmen auch strukturelle Probleme im deutschen Schulsystem und schlecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verantwortlich: „Ein nicht unerheblicher Teil des Berufsstands der schulischen Lehrkräfte erklärt sich freilich, oft schon rein altersbedingt, zur Hochrisikogruppe und bleibt weiterhin zuhause. Ermutigt und unterstützt wird die Behauptung einer hochriskanten Gefahrenlage im Klassenzimmer durch Stellungnahmen zahlreicher Lehrerverbände und Bildungsgewerkschaftssprecher, die sich als Speerspitze der Forderung nach dauerhafter Schulschließung verstehen. Höchstens millimeterweise dürften zaghafte Öffnungsversuche mit Plexiglaszellen für jeden Schüler und täglichem PCR-Testat realisiert werden.“

Barz verweist auf den Gesundheitsstatus deutscher Lehrkräfte und zitiert die ‚Potsdamer Studie zur Lehrerbelastung‘. Sie gilt bis heute als wichtiger Meilenstein zu den Einstellungsmustern und den Gesundheitsrisiken im Lehrerberuf: „Die Studie, die durch den Psychologieprofessor Uwe Schaarschmidt durchgeführt wurde, basierte auf einer Stichprobe von 16.000 Lehrern und 2.500 Referendaren und Lehramtsstudierenden aus der gesamten Bundesrepublik. Sie zeichnete ein wenig schmeichelhaftes Bild der großen Mehrheit deutscher Lehrer. Demnach wiesen 40 bis 60 Prozent aller Lehrkräfte – so viele wie in keiner anderen Berufsgruppe – in Bezug auf ihr Belastungserleben Risikoprofile auf: Nur 17 Prozent der Lehrer seien insgesamt sehr engagiert, widerstandsfähig gegenüber Alltagsbelastungen, sowie generell ausgeglichen und zufrieden. 30 Prozent zeichneten zwar hohes Engagement aus – aber auch eine deutliche Tendenz zur Selbstüberforderung. Bei ihnen münde exzessive Verausgabung, verminderte Erholungsfähigkeit und ausbleibende Anerkennung in Resignation. Für 23 Prozent sei das vorherrschende Einstellungsmuster ein reduziertes Engagement, bei gleichzeitigem Fokus auf das Privatleben. 29 Prozent der Lehrer seien insgesamt kaum engagiert und auch nicht widerstandsfähig, was sich in einer insgesamt unausgeglichenen Grundhaltung zeige. Dass die Mehrheit der Lehrer also Corona-Sonderschichten einlegt, konnten nur Leute erwarten, die kaum eine Schule von innen kennen und die auch keine Ahnung von Ergebnissen der Schul- und Unterrichtsforschung haben.“ 

Barz fügt hinzu, dass gerade die couragierten Pädagogen unter dem problematischen Bild leiden, das sich in den Corona-Wochen über die Hochrisiko-Gruppe Lehrer erneut verfestigt habe: „Eine nachhaltige Verbesserung der beschriebenen Problemlagen dürfte also gerade in ihrem Interesse sein. Und natürlich im Interesse der über 10 Millionen Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern, die nach den Sommerferien keine „Neue Normalität“ und keine Lehrerinnen und Lehrer brauchen, die sich offenbar im Pandemie-Sonderurlaub ziemlich bequem eingerichtet haben.“

Die ganze Polemik finden Sie unter https://bildungsforschung.hhu.de/hochrisikogruppe-lehrer/

Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 wirft zahlreiche Fragen nicht nur zu den gesundheitlichen, sondern auch zu wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Folgen auf. Die Wissenschaft liefert hier entscheidende Fakten und Antworten. Viele Forscherinnen und Forscher der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) aus unterschiedlichen Disziplinen sind durch ihre Arbeit aktuell gefragte Gesprächspartner der Medien oder auch direkt in das Pandemie-Krisenmanagement eingebunden. Die HHU möchte ihre wissenschaftliche Expertise in die öffentliche Diskussion einbringen, um so zur Einordnung und Bewältigung der Corona-Krise beizutragen.

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Autor/in: Victoria Meinschäfer
Kategorie/n: Pressemeldungen, Corona-Expertisen
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